Zusammengestellt in dankenswerter Weise von unserem ehemaligen Einwohner Professor Dr. Heinz Günther Walter (†2021)

Die Sachsen des Odenwalds

Eine Sachsensiedlung tief drin im Odenwald, in einem weitläufigen Tal, geformt von den 3 Bächen Storchen-, Heide- und Kaltenbach, umgeben von bewaldeten Höhenzügen und in dadurch klimatisch geschützter Lage?

Karl der Große machte es möglich. 30 Jahre lang führte er Krieg gegen Wittekinds Stamm, gegen die Niedersachsen zwischen Elbe und Weser, Harz und Meer. Immer wieder von neuem drang er ein in ihre Gebiete, in Wälder und heilige Haine. Er stürzte ihre Götter, zerstörte ihre Heiligtümer und errichtete stattdessen christliche Kirchen und Klöster mit dem Auftrag, das widerspenstige Volk der Sachsen der heiligen Kirche zuzuführen.

Der Kaiser hatte dabei einigen Erfolg, musste aber auch herbe Niederlagen einstecken, und so mancher edle Recke aus seinem stolzen Heerbann fiel den taktisch oft äußerst klug eingefädelten Überfällen der kriegerischen Sachsen zum Opfer. Zur endgültigen Absicherung seines Vorhabens führte er schließlich, gemäß dem Grundsatz: „Teile und herrsche“ größere und kleinere Umsiedlungen durch. Dabei kam es ihm darauf an, zuverlässige Franken in Sachsen, auffallend widerspenstige Sippenmitglieder von dort aber im Frankenland anzusiedeln. Im Zuge solcher Umsiedlungsmaßnahmen soll ein gewisser Reinhard mit seiner Sippe tief in den damals noch dünn besiedelten fränkischen Odenwald, in den Gemarkungsbereich des heutigen Dorfes Reinhardsachsen gekommen sein. Er teilte das Schicksal vieler sächsischer Landsleute wie zahlreiche Ortsnamen, z.B. Sachsenhausen in Hessen, die Gemeinde Sachsenflur bei Bad Mergentheim oder Sachsen bei Ansbach und mehrere andere, beweisen.

Es ist in den vergangenen Jahren in der heimatkundlichen Literatur immer wieder darüber diskutiert worden, wann genau die Ansiedlung der Sachsen im Kaltenbachtal erfolgt sein konnte. Doch die Ergebnisse waren bescheiden. Es fehlen zuverlässige Quellen. So blieb es nicht aus, dass man das Ereignis flexibel in die Zeit der Karolinger (8./9. Jh.), ja sogar der Ottonen (10./11. Jh.) einzuordnen versuchte. Bezüglich der letzteren Version wäre allerdings zu beachten, dass die Ottonen als die dem sächsischen Herzogsgeschlecht entstammenden Kaiser wohl kaum für eine Zwangsumsiedlung ihrer eigenen Landsleute in andere Herzogtümer in Frage kommen.

Zieht man die unterschiedlichen Schreibweisen des Namens Reinhardsachsen zur Untermauerung der „Ansiedlungsthese“ heran, so dominiert ganz offenkundig die Schreibweise „sachsen“. Der Ortsname wird zum ersten Mal im Jahre 1294 in einem Urbar des Klosters Amorbach genannt. Damals schrieb man Reinhartisahsen, wobei der Personenname im (lat.) Genitiv erscheint und außerdem angenommen werden darf, dass das „h“ damals noch als „ch“ zu lesen war. In den folgenden Jahrhunderten finden sich folgende Schreibweisen: 1365 Reinhardsachsen, 1366 Reynhardsachsen, 1448 Reinhartsassen, 1468 Reynhardtsagsen, 1484 Reinhartsachßen, 1528 Reinhartssassen, 1734 Reinhardsachßen und schließlich seit 1768 Reinhardsachsen.

Doch fand sich auch für die Deutung „sassen“ im Sinne von Hintersassen, Sippengenossen oder Gefolgsleuten so mancher Anwalt. Das eine schließt jedoch das andere nicht aus. Denn, dass es sich bei der Sippe des Reinhard auch um (Hinter-) sassen = Ansässige) gehandelt haben könnte, hat einige Wahrscheinlichkeit für sich.

Eines dürfte ziemlich sicher sein: Besagter Reinhard musste vor der Anlage einer Siedlung im heutigen Ortsbereich erst größere Rodungen durchführen. Ob diese schon in der Zeit Karls des Großen oder erst im hohen Mittelalter im Auftrag der Amorbacher Benediktiner-Abtei erfolgten, lässt sich wohl kaum je mit absoluter Sicherheit entscheiden.

Auf einen Umstand ist allerdings noch gesondert hinzuweisen: Im 9. Jh., also im Zeitalter der Karolinger, bestanden gut belegte Beziehungen zwischen dem Kloster Amorbach und dem Bistum Verden. Es fehlt daher nicht an Stimmen, die eine Ansiedlung von Sachsen von daher zu erklären versuchen. Verden an der Aller, tief im Niedersachsenland gelegen, erlangte traurige Berühmtheit durch eine Strafaktion, die Karl der Große 782 dort durchführen ließ, indem er als Vergeltung für einen Überfall 4500 „edle Sachsen“ hinrichten ließ. In des Kaisers „Vita“ steht auf lateinisch „decollavit“ (er hat sie enthauptet). Freunde des später heiliggesprochenen Karl versuchten, die Vokabel als „delocavit“ (er hat sie umgesiedelt) zu deuten. Beides, nämlich die Enthauptung wie die Umsiedlung, ist dem martialischen Kaiser zuzutrauen.

Frühe Gründung

Mit dem Jahre 1294 wurde der Ort Reinhardsachsen relativ spät zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Bei einer so kleinen Ortschaft schließt dies aber eine weit frühere Gründung keineswegs aus. Auch anderen Ortes häufen sich – im Gefolge von neuen Ausgrabungen und Entdeckungen – die Argumente für uralte Siedlungsstandorte und Gründungen, die urkundlich erst viel später, z.B. im Mittelalter, erstmalig erwähnt werden. So geht die Gründung vieler „-ing“ oder „-ingen“-0rte in Bayern und Schwaben oft bis in die Völkerwanderungszeit und die anschließende Landnahme (4./8. Jh.) zurück, obwohl sie erst im Mittelalter „aktenkundig“ werden. Ähnliches gilt auch für Ortsgründungen der Franken, die auf „-bach“ oder „-heim“ enden.

Ob schon vor der Karolingerzeit Menschen im Kaltenbachtal lebten, lässt sich nur vermuten. Allerdings finden sich schon aus der neueren Steinzeit einige wenige Hinweise auf erste Ansiedlungen, vielleicht aber auch nur auf gelegentliche Aufenthalte für Zwecke der Jagd und des Beerensammelns. Danach aber folgten die wahrscheinlich „siedlungsleeren“ Zeitraume der Bronze- sowie der keltischen Hallstatt- und La-Tene-Zeit (zwischen 2000 vor – und 100 n.Chr.)

Erst in der Römerzeit wurde es wieder lebendig in der Bannmeile des heutigen Dorfes Reinhardsachsen. Als nämlich der Endausbau des römischen Grenzwalles zum späteren obergermanisch-rätischen Limes erfolgte, stießen die Legionen der Cäsaren bis auf wenige Kilometer vor die Tore Reinhardsachsens vor. Sie bauten hier das Zwischenkastell „Haselburg“, besetzten es mit den auch in Walldürn stationierten „Britonen“ und legten möglicherweise auch eine kleine Lagersiedlung (Kastellvicus) an. Erste Untersuchungen an dem Kleinkastell mit seinen beiden Toren führte der Miltenberger Kreisrichter W. Conrady im Auftrag der Reichslimeskommission durch. Näheren Aufschluss über die zweierlei Bauphasen als Erdwall- bzw. Steinkastell gaben jedoch erst die Aus-grabungsarbeiten des Archäologen H.U. Nuber im Jahre 1975. Nach seinen Feststellungen musste das Kastell – wie viele andere am äußeren Limes – um die Mitte des 2. Jahrhunderts zur Verstärkung des Wallabschnittes Walldürn – Miltenberg angelegt worden sein. Die archäologischen Untersuchungen lieferten vor allem interessante Anhaltspunkte zur Innenbebauung mit Lagerbaracken in sehr dichter Anordnung. Doch fanden auch die beiden Zisternen sowie die Keller im Kopfbau des Kommandanten und seines Stellvertreters, ferner der „Werkstattschacht“ im Südwesten der Anlage Beachtung.

Das Interesse der Wissenschaftler erregte im Besonderen ein Depotfund von Eisengeräten, darunter ein seltenes Eisenschwert mit eingelegtem Dekor. 180 m südöstlich des Lagers, in der Nähe einer Quelle, wird das „Kastellbad“ vermutet. Schon 1893 fanden sich im Bereich der „Haselburg“ römische Münzen und Metallgegenstände und allerlei Terra-Sigillata-Scherben. Die „Maueräcker“, deutlicher Hinweis auf antike „Massivbauten“, lieferten sogar einen gut erhaltenen römischen Altarstein. Eine Replik wurde an der Giebelwand des neuen Rathauses in Reinhardsachsen aufgestellt. Steine des Römerkastells, das um 1780 noch eine ansehnliche Ruine gewesen sein soll, fanden beim Kirchbau, aber auch beim Bau der Häuser und Wege in Reinhardsachsen und Umgebung Verwendung.

Wechselnde Ortsherrschaften

Im Mittelalter gehörte das Gebiet um Reinhardsachsen zur fränkischen Urmark Walldürn. Als erste Ortsherren gelten die Edelherren von Dürn, die sich in der Urkunde vom 1. Mai 1294 als solche ausweisen. Ein Rupert I. de Dürne bestätigt mit diesem Papier – zusammen mit seinem Sohn Rupert IV. – den Verkauf von Stadt und Schloss Dürn mit allem Zubehör an den Erzbischof Gerlach von Mainz. Unter den weiteren Verkaufsobjekten werden dabei auch die Vogtei Bretzingen und die Zehnt in Reinhardsachen genannt. Der Dürner Edelherr erlöste mit diesem Verkauf 1.540 Pfund Heller. Es handelt sich vermutlich um einen Notverkauf. Denn das adelige Haus war in Folge seiner sprichwörtlich gewordenen Prunksucht bei den Staufer-Kaisern in Ungnade gefallen mit dem Effekt der totalen Verschuldung.

Reinhardsachsen teilte von da an die Geschicke des Erzbistums und späteren Kurfürstentums Mainz. Es gehörte zur Zehnt in Walldürn und zur Vogtei des Klosters Amorbach. Hervorzuheben ist das Gericht, das Konrad Rüde, der Burggraf von Wildenberg (Wildenburg über Amorbach) am 9. Mai 1366 in Reinhardsachsen abhielt. Es entschied, dass der Abt des Klosters Amorbach Vogt und Herr in Reinhardsachsen sei und dass alle Rechte daselbst nur von ihm ausgeübt werden dürften. Noch unklar ist allerdings, ob die Besiedlung der „Walldürner Höhenorte“ mehr von der Urmark Walldürn oder von Amorbach aus erfolgte. Christianisierung und Seelsorge dürften jedoch zumindest in der Zeit vom 8. bis zum 14. Jahrhundert im Wesentlichen das Werk der Amorbacher Mönche gewesen sein. Amorbach gehörte zu den ganz frühen Klöstern im süddeutschen Raum und spielte neben der Christianisierung auch in der Kultivierung seines Sprengels eine wesentliche Rolle. Das Lagebuch des Klosters nennt um das Jahr 1395 in Reinhardsachsen bereits 20 zehntpflichtige Bauern. In diesem Jahr war der Abt von Amorbach „faut und herre Im Dorffe und in felde über wasser, über wyde und 1st auch sin das stroßengericht daselbst“. 1544 gehört das Dorf nach einem Verzeichnis der Türkensteuer bereits zur Zehnt und zur Kellerei Walldürn. Amorbach war durch viele Jahrhunderte nicht nur Ortsherr, sondern auch noch größter Grundherr. Es verfügte 1395 neben der Vogtei über 12 Hufen, vom Anteil am Zehnten ganz abgesehen. Im Lagebuch wird noch ein Franz Philipp von Bettendorff genannt, der in Reinhardsachsen und Kaltenbrunn ebenfalls Gülten und Zinsen fordern durfte. Die Bettendorff werden in der Literatur als die Erben derer von Dürn, genannt „von Rippberg“, bezeichnet und sollen ihre Besitztümer und Gerechtsame 1768 wieder an das Kloster Amorbach verkauft haben. Schließlich verfügten in Reinhardsachsen noch die von Adelsheim im 15. und 16. Jahrhundert über Grund-, Gült- und Zinsbesitz. Es handelte sich dabei wie bei den Besitztümern der „Dürn von Rippberg“ höchstwahrscheinlich um altes „ministerialisches“ Dienstgut. Der adelsheimische Anteil ging 1467 durch Verkauf an die Zisterzienserinnen von Seligental.